Osmanisches Reich
Osmanisches Reich

Tanzimat (tanzimat-i hayriye)

Sultan Mahmud II 1808 - 1839

Die Neue Ordnung 1839 - 1878



Unter Tanzimat versteht man eine politische Reformperiode, die ein Bündel von systematischen Reformen von Deklarationen, Dekreten und Gesetzen hervorbrachte. Das Tanzimat war der Höhepunkt bürokratischer Versuche, das Osmanische Reich seit dem Ende des 16 Jh. zu reformieren. Es war  ebenso ein wesentlicher Moment der Europäisierung und der Säkularisierung und somit ein Bruch der bisherigen islamisch geprägten gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Abschließend waren die Tanzimatreformen auch eine diplomatische Waffe gegen die Ansprüche der europäischen Großmächte.

 

Die Reformen waren weder abschließend, noch durch ein logisches philosophisches Gedankengut untermauert. Sie waren der Versuch, einer Beendigung der absoluten Herrschaft des Sultans und der Gouverneure durch den Staat in Form einer machtvollen Bürokratie. Doch die Unbestimmtheit ihrer Legitimation in Bezug auf traditioneller islamischer Ordnungsvorstellungen und europäischem aufklärerischem Gedankengut, zeigten den mehrdeutigen Charakter dieser Reformen, die bis heute eine abschließende Deutung der Tanzimat-Periode kontrovers erscheinen lässt.



osm. neue Soldaten Anfang des 19.Jh.

Der Beginn der Reformen im 18 Jh. bis zum Jahr 1839

 

Im 18. Jh. mussten die osmanischen Eliten die Überlegenheit der westlichen Mächte schmerzlich Anerkennen. Doch sie waren zunächst nur bereit, die wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen zur Verringerung ihrer eigenen Schwäche anzuerkennen. Die Ausblendung des damit verbunden Normen- und Wertesystem verknüpfte die Reformpolitik in verhängnisvoller Weise mit der Illusion, die eigenen kulturellen Traditionen nicht zu verändern.

 

Die Reformkreise beschränkten sich anfangs auf einflussreiche Kreise am Hof und in der Regierung. Doch sobald die entscheidende Gruppen wie die Janitscharen oder Teile der Ulema-Hierarchie (Ilmiye) ihre soziale Positionen sich bedroht fühlten, hafteten die Reformanhänger bei Aufständen mit ihrem Leben.

 

Mit der Ausschaltung der Janitscharen 1826 bekam der säkulare Staat einen Bürokratisierungs- und Modernisierungsschub, der das gesamte gesellschaftliche und politische Gefüge des Reiches einleitete. Die Reformer versuchten zugleich, die herkömmliche durch exzessive Ämterpatronage gekennzeichnete Verwaltung in eine rationale Bürokratie umzuwandeln. Denn das Zusammenspiel von Ämterkauf, Korruption und den Zwang, die Karriere durch Ausbeutung der Bauern zu finanzieren, führte zu einer Verwüstung der Provinzen. Der neue Großwesir war  nun bereit die neuen Herausforderungen im Auftrag des Sultan Mahmud II anzugehen.



Mustafa Resit Pascha (1800 - 1858) einer der Väter des Tanzimat

Die Gliederung der Tanzimat Periode zerfällt in Personen und Reformedikten, die die Tanzimat prägten.

 

1. Phase (1839 - 1856)



Mustafa Resit Pascha (1800 - 1858) gilt allgemein als der Begründer der Tanzimat-Periode. Resit Pascha kam schon früh in die Zentralverwaltung der Hohen Pforte und war einer der ersten Beamten, die eine ausländische Sprache (französisch) lernten (Übersetzungsbüro seit 1833 tercüme odasi). Bis dahin galt die Beherrschung einer westlichen Sprache nicht als nützlich. Gerade durch seine Sprache wurde er 1834 Botschafter in Frankreich und lernte Europa und die europäische Politik und Kultur kennen. Danach erfolgten mehre Botschaftsämter und zwischen 1845 und 1857 sechsmal die Ernennung zum Großwesir.

Höhepunkt seines Schaffens waren die Reformedikte 1839 und 1856, die als Grundpfeiler des Tanzimat bekannt wurden.

 

Das Ehrwürdige Sendschreiben (hatt-i serif von Gülhane vom 03.11.1839)

 

Dieses Reformedikte sicherte erstens das Leben und den Besitz jeder Person, zweitens beinhaltete es das Ziel, ein gerechtes Besteuerungssystem einzuführen, und drittens, allen Untertanen, ohne Ansehen der Religion und Person, Schutz zu gewähren.

 

Das Herrschaftliche Sendschreiben (hatt-i hümayun vom 10.02.1856)

 

Dieses Reformedikt, als Bestandteil des Pariser-Friedens (Krimkrieg / Crimeanwar) bestätigte erneut die Rechte und Pflichten jedes Untertan. Besonders wurde die Gleichheit der öffentlichen Ämter, im Militärdienst, vor Gericht und in der Bildung betont, sowie die Abschaffung der Kopfsteuer (cizye) und die Einführung einer weltlichen Gerichtsbarkeit.



Großwesir und Außenminister Kececizade Mehmed Faud Pascha 1815 - 1869

2. Phase (1856 - 1869)

 

Nach dem Reformedikt von 1856 nahmen die gesellschaftlichen Spannungen zwischen den muslimischen- und denn nicht moslemischen Bevölkerungsgruppen rapide zu. Die juristische Gleichstellung aller Untertanen galt als Grundlage einer Akzeptanz im Kreise der europäischen Mächte, zu dem 1856 das Osmanische Reich Zugang erlangte. Gleichzeitig widersprach die Gleichheit den Grundsätzen der Scharia. Die Masse der der Muslime sah ihren traditionellen Status, ihren kollektiven Stolz und damit ihr Wir-Bild bedroht. Die Gleichsetzung der Dimmis bzw. der nichtmoslemischen Bevölkerung, die in Millets organisiert war, fördernde die bewusste Identifikation mit dem Islam der gegen diese säkulare Ordnung zum Widerstand mobilisierte. Die diktatorischen Reformen zusammen mit dem als kollektiv empfundenen Bruch der eigenen islamischen Identität, erzeugten unter den unzufriedenen Beamten eine Oppositionsbewegung, die sich selbst “Jungosmanen” nannten. Sie waren die erste Opposition, die ihre Kritik durch die Hinwendung auf den Islam ideologisch untermauern sollte, gleichzeitig aber die fehlenden Freiheit der von “oben” verordneten Reformen einforderten und somit versuchte, europäisches Denken mit islamischer Tradition zu harmonisieren. In dieser Zeit übernahmen zwei Schüler von Resit Pascha die Geschicke der Staatsführung. Zum einen Kececizade Mehmed Faud Pascha (1815 - 1869) zum anderen Mehmed Emin Ali Pascha(1815 - 1871).

 

“Alle hatten zeitweise als Botschafter in Paris und London bzw. als Außenminister gedient. Alle drei führten, zum Teil mehrfach, das Siegel des Großwesir. Während Resit noch einen ganz traditionellen Bildungs- Hintergrund hatte, war Ali ein Zögling der 1822 gegründeten Übersetzer und Dolmetscherschule (tercüme odasi), Faud hatte die Medizinakademie absolviert. Gute Französischkenntnisse ermöglichten allen drei Staatsmänner in unmittelbaren Verkehr mit ausländischen Gesandten zu treten.”

(Kreiser, K und Neumann, C.K.: Kleine Geschichte der Türkei. Stuttgart 2003 S. 334)



Großwesir und Vater des Grundgesetzes Mithat Pascha 1825 - 1884

3. Phase (1869 - 1876)


Mit dem Tod Resit Pascha 1869 beschleunigten beide Schüler den Prozess der Reformen. Es entstand ein Vielzahl von modernen Gesetzen. Gleichzeitig blieben die Erneuerungen und Reformen nicht auf den ursprünglichen Zielen wie Militärreformen oder Verwaltungsreformen beschränkt, sondern erreichten alle Gebiet der Gesellschaft. Vor allem erzeugte der Europäisierung Druck, einen Individualisierungsschub in einer bis dahin traditionellen, auf die Gemeinschaft hin orientierte Gesellschaft. Abschließender Höhepunkt des Tanzimat erfolgte durch Midhat Pascha (1825 - 1884) der 1878 eine osmanische Verfassung verkündete. 



Das Grundgesetz (kanun-i esasi vom 23.12.1876)

 

Dieses Gesetzt regelte abschließend die Beziehung des Staates zu seinen Untertanen und war Grundlage aller organisatorischen Institutionen, die an der Willensbildung im Staat beteiligt waren. Vor allem ging es um die Einrichtung einer Abgeordnetenkammer bzw. um die juristische Verankerung der europäischen Idee einer Gewaltenteilung im Sinne einer Verfassung.

 

Mit der Verbannung von Midhat Pascha am 05.02.1877 endete die Reformära der Verwaltung, da zu diesem Zeitpunkt Sultan Abdül Hamid II (1876 - 1909) die letzte absolute Herrschaftsperiode im Osmanischen Reich bis 1908 einleitete.



Die Jungosmanen 1865 – 1878 (Yeni Osmanlilar)

Namik Kemal 1840-188

In der zweiten Phase des Tanzimat entwickelte sich eine westliche und zugleich nationalistisch orientierte Intellektuellengruppe als politische Oppositionsgruppe, die Jungosmanen. Ihre Gründung entstand 1865 als eine Geheimgesellschaft mit dem Namen Patriotische Allianz (Ittifak-i Hamiyyet) in Istanbul. Die Gruppe bestand aus einer Anzahl ehemaliger Beamter mit zum Teil unterschiedlicher politischer Ideologie, die alle ihre Herkunft im Übersetzungsbüro der Regierung hatten. Dabei gab es einige finanzielle Unterstützter wie Mehmed Bey oder den Bruder des Ägyptischen Kadiven Prinz Mustafa Fazil Pascha. Daneben bedeutende Dichter und Redakteure wie Sinasi Ali Efendi, Ziya Pascha, Ali Suavi Efendi, Rifat Mehmed Sadik Pascha und Namik Kemal,um nur einige zu nennen.

Ziya Pascha 1825 - 1880

Gemeinsam war ihnen die Kritik an den herrschenden Zuständen, insbesondre an Ali Pascha und Faud Pascha. Die von beiden vorangetriebene Modernisierung und Bürokratisierung brachte einen ersten säkularen Schub in ein bis dahin religiös geprägte Gesellschaft. Die Jungosmanen versuchten mit einem liberalen Konstitutionalismus den Islam als politisches Herrschaftsmodel zu modernisieren. Damit lehnte sie die Gleichstellung zwischen Muslimen und Nichtmuslime ab und suchten durch Instrumentalisierung der muslimischen Massen, vor allem der Ulema, ihre politische Vorstellung durch zusetzen. Als Mittel benutzten sie zu ersten Mal das Medium von Zeitungen z.B. Gründung der Hürriyet, Romanen und Theater, um ihre Ideen zu verbreiten. Dennoch entstand keine in sich geschlossne politische Theorie, weil der Versuch der Umdeutung des ursprünglichen Islam nicht gelang. Somit setzte die nachfolgende Generation der türkischen Opposition Jungtürken auf das Militär und deren säkularen Ideen von Staat und Nation.



Von den Jungosmanen zu den Jungtürken bis Atatürk?


“The impression that nowadays in Turkey that the Young Ottomans were the direct intellectual ancestors of the Turkish Republic thus resets on partly correct foundations, and to cite Namik Kemal as the intellectual mentor of Atatürk is not an entirely erroneous point of view. It is often forgotten, however, that Young Ottomans theories were partly of Islamic origin. In the ideas of the Young Turks this substratum is weaker and it disappaers completely in Atatürk. The significant strand to follow, then, in establishing the link between the Young Ottoman, the Young Turks, and Atatürk is the weaking of Islamic content.” 

(Mardin, Serif: The Genesis of Young Ottoman Thought. A Study in the Modernization of Turkisch Political Ideas. Princeton 1962 S. 404 Ed. 2000)



Das Krisenjahr 1876

Sultan Abdül Hamid II 1878 -1909

Während den  chaotischen Unruhen auf dem Balkan ereignete sich in Konstantinopel am 10.05.1876 ein Aufstand der “Softas”. Diese Medressenschüler, also Mitglieder der unteren Ulema, die vor allem den Parolen der Jungosmanen nachliefen, zwangen die unfähige Regierung zum Rücktritt und ebneten dem Reformer Mithat Pascha den Weg in die neue Regierung. Mit dabei waren die Jungosmanen Ziya Pascha und Namik Kemal. Die Folge dieser Machtergreifung war die Absetzung von Sultan Abdul Aziz 1861 - 1876 am 30.05.1876 und gleichzeitig die Thronbesteigung von Sultan Murad V. Wegen der geistigen Unzurechnungsfähigkeit musste Mithat Pasche den neuen Sultan wiederum am 01.09.1876 für abgesetzt erklären und holte dessen jüngeren Bruder Abdül Hamid II auf den Thron. Mit der Ernennung am 19.12.1876 zum Großwesir und die Ausrufung der neuen Verfassung vier Tage später, erreichte die neue Regierung und die Bewegung der Jungosmanen ihren Höhepunkt. Doch der neue Sultan wollte selbst an die Macht und verbannte im Februar 1877 Mithat Pascha aus Konstantinopel, worauf auch die anderen Reformer und Jungosmanen aus dem Staatsdienst entlassen wurden. Das Ende des Tanzimat war auch der Anfang vom Ende ihrer schärfsten Opposition nämlich der Jungosmanen, bis zur Revolution der Jungtürken 1908.

 

Das Erbe der Jungosmanen



“Das die “Neuen Osmanen” außerstande waren, den Staatsstreich Abdül Hamid II zu verhindern oder rück- gängig zu machen, war freilich weniger auf die Unzulänglichkeit ihrer theoretischen Vorstellungen als vielmehr darauf zurück zuführen, dass ihr Einfluss über relativ kleine Gruppen städtischer Intellektueller nicht hinausreichte. Gleichwohl sollte ihr Stellenwert für die Genesis der modernen Türkei nicht unterschätzt werden. Es waren die von ihnen in der öffentlichen Meinung des Osmanischen Reiches hineingetragenen Ideen der bürgerlichen Gesellschaft, der Demokratie und des Nationalismus, die nach und nach das Vakuum ausfüllten, welches die politischen Veränderungen der Periode zwischen 1826 und 1876 hinterlassen hatten:”

(Steinhaus, Kurt: Soziologie der türkischen Revolution. Limburg 1969 S. 42)



Literaturauswahl

Davison, Roderic D.: Reform in the Ottoman Empire 1856 - 1876. New York 1973

Kraelitz-Greisenhorst, Friedrich von: Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches. Wien 1919

Kürsat, Elcin: Der Verwestlichungsprozeß des Osmanischen Reiches im 18. und 19. Jahrhundert. 2 Bände, Frankfurt 2003

Lewis, Bernhard: The emergence of modern Turkey. Oxford 1961

Mardin, Serif: The Genesis of Young Ottoman Thought. A Study in the Modernization of Turkisch Political Ideas. Princeton 1962 S. Ed. 2000

Marcinkowski, Marcin: Die Entwicklung des Osmanischen Reiches zwischen 1839 und 1908. Reformbestrebungen und Modernisierungsversuche im Spiegel der deutschen Literatur. Berlin 2007

Sax, Carl Ritter von: Geschichte des Machtverfalls der Türkei bis Ende des 19. Jh und die Phasen der “orientalischen Frage” bis auf die Gegenwart. Wien 1908

Sivers, Peter von: Die Imperialdoktrin des Osmanischen Reiches 1596 - 1878 in: Reform und Revolution in der islamischen Welt: (List Taschenbücher der Wissenschaft Bd. 1505) München 1971 S. 17 - 85



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