Die Organisation der orthodoxen Ulemas
Unter Ilmiye (Ilmiye Sinifi/ wissenschaftliche Laufbahn) versteht man die gesellschaftliche Gruppe (Korps) der Schriftgelehrten (die eigentlichen Männer der Feder) im Osmanischen Reich. Der Begriff kommt von Ilm, das Wissen. Dabei wird der Besitzer von Wissen als (alim) bezeichnet. Die Pluralform ist arab.ulama, türk. ulema und umfasst alle juristischen und religiös ausgebildeten Personen. Die Mitglieder der Ilmiye waren Geistliche, Richter, Lehrer bzw. Träger des gesamten Erziehungssystems sowie Abkömmlinge des Propheten und im weitesten Sinne auch die Derwische bzw. mystischen Orden. Im Osmanischen Reich entwickelte sich aus der Gesamtheit der aus dem Medressensystem hervorgehenden Personen eine staatliche Organisation mit hierarchischen Rangstufen vom Koranschüler bis zum obersten Mufti in Istanbul. Dieser Rechtsgelehrte, der ab dem späten 15. Jh. auch Scheich ül-islam genannt wurde, war somit oberster Richter und Gelehrter über Tausende von im staatlichen Sold stehenden Gelehrten.
Die Ilmiye war “... eine mächtige, der Religion dienende Organisation. Als Hierarchie der theologisch-juristischen Gebildeten war sie einer der institutionellen Pfeiler des osmanischen Staates. Als Bewahrer in der orthodox- islamischen Charakters des Reiches umfasste sie das religiös bestimmte Erziehungs- und Rechtswesen und hatte überdies gewisse Verwaltungs- und Aufsichtsbefugnisse.”
Majer, H.G.: Vorstudien zur Geschichte der Ilmiye im Osmanischen Reich, München 1976, S. 2
Der Scheich ul-islam
In der Regierungszeit Murad II bzw. Mehmed II wurde der oberste Mufti von Konstantinopel zuerst herausragender Gutachter des islamischen Rechts und dann unter Süleyman auch oberster Leiter des Gelehrtenkorps, der eigentlichen Ilmiye. Damit wurde der Scheich ül-islam über die beiden Heeresrichter und die persönlichen Lehrer des Sultans gestellt. Der Scheich ül-islam war damit dem Großwesir gleichgestellt und repräsentierte vor allem das türkische Element im Staat, da nur arabische oder in der Hauptsache türkische Muslime Zutritt zur Ilmiye hatten. Hauptaufgabe des Scheich ül-islam war die Führung des Gelehrtenkorps bzw. der Ulema. Damit war er auch gleichzeitig oberster Gesetzesausleger in Form rechtsgültiger Scharia gebundener Rechtsgutachten und Letztinstanz als oberster Richter sowie Hofiman der Sultane.
Diese Stellung ermächtigte nicht nur zur Einflussnahme auf die Gesetzgebung und damit auf die Regierungsgeschäfte, sondern führte ab dem 17. Jh. sogar zur Möglichkeit, einen Sultan durch Rechtsgutachten abzusetzen. Des Weiteren war die Amtseinführung eines neuen Sultans legimitatorisch die Sache des Scheich ül-ilsm der dem Sultan in einer feierlichen Zeremonie das Schwert umgürtete. (Die Umgürtung durch das Schwert Osmans symbolisierte die Rechtmäßigkeit und der Beginn der Herrschaft durch den Sultan.
Doch der Scheich ül-islam war kein eigenständiger religiöser Führer oder Religionsoberhaupt, vergleichbar eines Papstes, denn er unterstand immer dem osmanischen Staat. 1924 wurde das Amt des Scheich ül-islam zusammen mit dem Kalifat abgeschafft.
Kreiser, Klaus: Vom Koranschüler zum Scheich ül-islam, in: Brockhaus Weltgeschichte. Um Glaube und Herrschaft (600-1650) Band 3, Leipzig 1998 S. 123-131
Die großen Mollas
Darunter versteht man die Heeresrichter (Kadiasker) und die Richter der großen Städte. Unter den Heeresrichter war der Heeresrichter von Rumeli (Rumelien) (1) der erste Richter (kadi) im Reich Mehmed II stellte ihm den Heeresrichter von Anatoli (Anatolien) (2) bei Seite.
Wenn der Sultan ins Feld zog folgte im jeweils der für den Erdteil zuständige Richter. Allgemein war der Heeresrichter von Rumeli zuständig als Höchstinstanz für alle Muslime, dem Heeresrichter von Anatoli zuständig als Höchstinstands für alle nicht Muslime, vorgesetzt. Jeder der beiden Heeresrichter verfügte über eine eigene Kanzlei. Beide waren für die Ernennungen der Kadis, Naibs, Imane und Chatibe in ihren Bereichen zuständig. Später übernahm der Scheich ül-islam die Ernennung der obersten Richter. Die Heeresrichter wurden bis ins 17. Jh. vom Großwesir ernannt, später vom Scheich ül-islam.
Die Amtsdauer belief sich auf ein Jahr. Gleichzeitig waren die beiden Herresrichter Mitglieder des “großherrlichen Diwans” (Staatsrat/ divan-i humayun). Somit erfolgte über diese Position die Verflechtung von Regierung (Exekutive) und Rechtsprechung (Judikative). Den beiden Heeresrichter folgten die Richter der größten Städte (in der Reihenfolge ihres Ranges). Die Richter von Konstantinopel (3) (Istanbul), die Richter von Mekka und Medina (4), die Richter von Adrianopel (Edirne), Brussa (Bursa), Kairo und Damaskus (5), Galata, Skutari (Üsküdar) und Eyüb (das sind die drei Vorstädte von Istanbul) sowie die Richter von Jerusalem, Smyrna (Izmir), Haleb (Aleppo) Larisa und Selanik (6) (Thessaloniki). Diese Einteilung in 6 Klassen bzw. 17 Mollas wurde abschließend im 17. Jh. festgelegt. Anfangs waren die großen Richterstellen auf Lebenszeit beliehen, später kam es zu häufigen Ämterwechsel und damit zum vorgegebenen Aufstieg durch die verschiedenen Ämter.
Die kleinen Mollas
Neben den großen Richter im ersten Rang gibt es die Richter der 10 Städte des zweiten Ranges. Dies sind die Richter von Maras, Bagdad, Bosnasarai (Sarajewo), Sofia, Belgrad, Aintag (Gaziantep), Kutahja (Kütahya), Konia (Konya), Filibe (Plovdiv) und Diarbekir (Diyarbakir).
Aufgaben und Pflichten des Richters
Mit der Ausdifferenzierung einer entstehenden islamischen Verwaltung verband sich im 9. Jh. die Entstehung des Richteramtes. Dabei vollendete das Osmanische Reich die Hierarichung und Ausdifferenzierung des Richteramtes.
“ Das ganze Staatsgebiet war in zahlreiche Gerichtsbezirke (kaza) unterteilt, die je einem Richter zugewiesen waren und sich in mehrere Distrikte gliederten, in denen ein bevollmächtigter amtierte. Die auf den Gerichtsbezirk folgende höhere Einheit war der Regierungsbezirk (sancak); die Provinz (eyalet) fasste mehrere Regierungsbezirke zusammen. All diese Stellen waren mit Kadi-Stellen versehen.
(Nagel,Tilmmann: Das Islamische Recht, Westhofen 2001 S. 106)
Der Kadi war nicht nur Richter im eigentlichen Sinne, sondern auch zuständig für die innere Sicherheit. Über das Stiftungswesen (hier gab es noch extra die Inspektoren (müfettische) der großen Stiftungen in Konstantinopel, Adrianopel und Bursa), notarielle Angelegenheiten wie Vormund- Testaments- Vertrags- Miets- oder Heiratsangelegenheiten, außerdem für die Einhaltung wirtschaftlicher Vorgaben in Form des Marktvogtes und schließlich Bindeglied zwischen der staatlichen Verwaltung und der Bevölkerung als Garant der politischen und religiösen Ordnung. Dabei war der Richter theoretisch nur der Scharia verpflichtet, praktisch aber, im Osmanischen Reich, an die Weisungen bzw. Fetwas des Scheich ül-islam und den auf Sultansbefehlen beruhenden Verordnungsrecht (kanun), gebunden. Dabei waren viele Gesetze gleichfalls durch den Scheich ül-islam geprüft, d.h. in Übereinstimmung mit der Scharia erlassen, und somit im eigentlichen Sinne Fetwa. Anders lag es im Bereich der Kapitulationen (ahdname) da diese offensichtlich gegen die Scharia verstießen, wurden sie von den Gerichten bzw. Gelehrten im Osmanischen Reich offensichtlich ignoriert.
Ein Richter muss volljährig, Muslim und im Vollbesitz seiner Geisteskraft sein. Er muss ebenfalls unbescholten, von hoher fachlicher Qualifikation und dennoch bescheiden und tugendhaft auftreten. Er fällt allein das gerechte Urteil und trägt persönlich vor Gott die Verantwortung für jede Entscheidung. Die Urteile sind bindend, weil andernfalls die gegebene Ordnung im Diesseits gestört werden würde.
“In Rumelien gibt es 700 Richterstellen ... so hat z.B. eine Richterstelle 10 Anwärter (mülasim). ..... Wenn ihr Provisorium um ist, wird ihnen eine Stelle gegeben. Aber man vergibt sich auch auf Fürsprache oder in Folge von Bestechung durch hohe Geschenke. Ew. Majestät schärfe den Heeresrichtern streng ein, dass sie sich bei ihren Vorschlägen und Berichten zu hüten haben, die Richterstellen auf Fürsprache oder gegen Bestechungsgeschenke zu vergeben, dass sie unbedingt die Prüfung vorzunehmen und nur die Würdigsten für die Stelle vorzuschlagen haben.”
(Behrnauer, W.F.A.: Das Nasihatname, in: ZDMG Bd. 18, Leipzig 1864 S.723)
Fetwa des Scheich ül-islam Ebüssuud (1490 - 1574)
Frage: Ist es Gesetz, dass eine Sache, die einmal nach dem erhabenen Scharia entschieden ist und die ein anderer Kadi vollstreckt und unterzeichnet hat, wieder von Anfang an verhandelt wird?
Antwort: Wenn kein Befehl des Sultans vorliegt, nicht. Und selbst wenn es befohlen wird, wird (die Entscheidung) nicht abgeändert, wenn sich ergibt, dass früher gesetzmäßig entschieden worden ist. So schrieb Ebüssuud.-” Und die Gerechtigkeit gehört dem Scharia-Recht. Man muss es schützen, und zu seinem Schutz gehört, dass es verpflichtend ist und nicht aufgefochten werden kann.”
(Quelle: Horster, Paul: Zur Anwendung des Islamischen Rechts im 16. Jh. Stuttgart 1935 S.90)
“Die Durchsetzung und Aufrechterhaltung dieser Ordnung kann deshalb kein Vorgang sein, an dem verschiedene Sachkenner beteiligt sind, die ihre Fähigkeiten, sollte es um die Verteidigung in einem Strafverfahren gehen, gar dem Delinquenten, also demjenigen zukommen lassen, der diese Ordnung verletzt hat; die Ordnung ist dank der Scharia bekannt, ein im Ergebnis offenes Verfahren wäre daher widersinnig.”
(Nagel, Tilman: Das Islamische Recht. Westhofen 2001 S. 118)