Ursprung, Wandel und Zerstörung einer Politischen Idee.
1. Vorwort
Schon aus der islamischen Tradition hervorgehend war das Vorhandensein nicht muslimischer Bevölkerungsgruppen einer der wichtigsten Elemente im Osmanischen Staat. Der
Islam unterscheidet die Welt in zwei Territorien. Zum einen den „dar al-harb" (Land des Krieges) und zum anderen den „dar al-islam" (Land des Islam) (1). Dabei stellt das islamische Recht die
früheren Offenbarungsreligionen der „Schriftbesitzer" ( ahl al-kitab) unter besonderen Schutz, wenn diese die islamische Herrschaft anerkannten (Koran Sure 9, Vers 29)(2).
Insbesondere Christen und Juden erhielten als „dimmi" (Schutzbefohlenen) das Recht auf freie Religionsausübung. Im Gegenzug erhob der islamische Staat die „gizya" (Kopfsteuer) und verbot den „dimmi" das Tragen von Waffen.
2. Grundlagen der Koexistenz verschiedener Religionen im Osmanischen Reich
Der Osmanische Staat institutionalisierte diese Praxis mit der Schaffung von „millet" (Religionsgemeinschaften) (3) indem er das Recht
auf Selbstverwaltung und Rechtsprechung unter die Leitung religiöser Oberhäupter stellte. Aus der Sicht des Osmanischen Staates handelte es sich bei der Verwaltung der „millet" um eine fiskalische
Angelegenheit, die entsprechend verwaltungstechnisch umgesetzt wurde. Im Osmanischen Reich kennen wir als frühe „millet" das griechisch-orthodoxe, das armenische und das jüdische, später folgten noch
die „millet" der protestantischen, der unionierten orientalischen Kirchen und die lateinische Kirche (4). Alle erstgenannten Religionsgemeinschaften hatten ihren Verwaltungssitz in Konstantinopel.
Die Bestätigung der Rechte und Pflichten erfolgte ab dem Anfang des 16 Jh. auf Befehl (nisan) der Zentralverwaltung in Form einer einfachen Bestätigungs- bzw. Zuweisungsurkunde (berat,) vergleichbar
mit der Ausstellung einer Bestallungs- bzw. Ernennungsurkunde(5).
Hier stellt sich immer wieder die Frage der staatlichen Toleranz gegenüber anderen Religionsgemeinschaften. Für die osmanische Verwaltung war die Gewährung der Religionsausübung und der
Selbstverwaltung für die „millet" Mitglieder keine Frage des Wollens oder einer weltanschaulichen Toleranz, sondern ein Akt immanenter und sakrosankter Durchführung islamischer Rechtsregelungen (6).
Gleichfalls zeigt die Eingliederung in die Finanzverwaltung die Bedeutung der Einnahmen durch die Erhebung einer Kopfsteuer. Dabei stellte sich in den Finanzregistern die Kopfsteuer als eine der
umfangreichsten und damit wichtigsten Steuereinnahme dar. Eine wie auch immer geartete Konvertierung lag somit weder in einem religiösen Gebot des Islams noch im Interesse des Staatshaushaltes. Für
die Mitglieder des „milllet" bedeute diese Regelung das Verbot des Waffentragens, des Erweb von Boden und eine Begrenzung des sozialen Aufstieges in die osmanische Verwaltung. Der Grossteil der
Nichtmuslime arbeitete als Bauern, danach treffen wir die Gruppe von Handwerkern und Kleinhändlern. Innerhalb den Städten arbeiteten die Nichtmuslime als Handwerker, Händler oder Geldverleiher.
Daneben in den klassischen Disziplinen, der Medizin, Wissenschaft, Theologie und Diplomatik. Gerade die griechisch sprechenden Nichtmuslime hatten bis ins 18 Jh. hinein fast ein Monopol auf gehobene
Kirchenpositionen inne. Diese Tatsache erklärt vor allem die Überlieferung der griechisch-byzantinischen bzw. orthodoxen Sprache und Kultur, weil gerade das griechisch nicht nur als liturgische
Sprache, sondern auch als Kommunikationsmedium (7) diente. Das gleiche Phänomen erkennen wir beim Aufstieg der Nichtmuslime im Bereich der Diplomatik, dort dienten Nichtmuslime als Übersetzer bzw.
Dolmetscher für die osmanische Verwaltung und als Dolmetscher im Kontakt mit ausländischen Gesandten und Kaufleuten. Damit wird ersichtlich, dass die Nichtmuslime, die als „millet" organisiert waren,
nicht außerhalb des Staatsvolkes standen noch irgendwelche Privilegien in Anspruch nahmen, sondern als Untertanen (raya) zur gleichen Loyalität verpflichtet waren wie die übrigen muslimischen
Untertanen. Dabei muss beachtet werden, das die Identifikation nichtmuslimischer Gemeinschaften, insbesondere der städtischen Eliten von Griechen, Armenier und Juden, als „Osmanli" und damit als
staatstragendes Individuum sicher enger und bewusster zum Staat war, als die turkmenischen oder arabischen Nomaden in Anatolien und im Nahen Osten.
3. Niedergang des Millet Systems im 19. Jahrhundert
Mit dem Ende des 18 Jh. und dem beginnenden 19 Jh. war das Osmanische Reich nur noch ein Schatten seines Selbst. Politische und soziale innere Unruhen, militärische Niederlagen und direkte oder indirekte Einflussnahme durch die europäischen Mächte verschlechterten die sozialen Bedingungen der Bewohner des Osmanischen Reiches drastisch (8). Darunter litten beide Bevölkerungsgruppen und sie entwickelten dabei unterschiedliche Überlebensstrategien. Schwächstes Glied der sozialen Schichtung waren Unteranterem bäuerliche Nichtmuslimische, da sie sich militärisch gegen die Übergriffe der Verwaltung oder ihrer muslimischen Nachbarn nicht zur Wehr setzen konnten. Somit gab es hauptsächlich nur zwei alternative Möglichkeiten, die sich am Anfang des 19 Jh. anboten. Erstens die Übersiedlung in sicherere Städte oder den Hilfegesuch an europäische Mächte zum Zwecke des militärischen Schutzes. Dieser außenpolitische Blickwinkel fällt genau in eine Zeit der Entstehung eines sprachlichen und völkischen Nationalismus in Europa (9). Die bisherige religionsbezogene Sicht der „millet" änderte sich nun für die Mitglieder in eine durch Religion und Sprache, also einer eigenen kulturellen Identität erlebten nationalen Minderheit. Diese Sichtweise stimmte mit den Erfahrungen europäischer Politiker überein und konzentrierte deren Politik auf die Einräumung von Sonderrechten für die aus Ihrer Sicht unterdrückten Nichtmuslimischen Minderheiten. Somit wurden aus den nichtmuslimischen Religionsgemeinschaften, die unter dem Begriff „millet" im osmanischen Staatsverständnis integriert waren, schützenswerte nationale Minderheiten, die durch soziale Ausgrenzung benachteiligt wurden. Im Zuge der Tanzimat Reformen proklamierte die osmanische Regierung im (Hatt-i humajun) vom 18.02.1856 die Gleichstellung aller osmanischer Untertanen und die Garantie kirchlicher Privilegien und Immunitäten (10). Dieser Wandel stellte die Nichtmuslime nicht nur den herrschenden Muslime rechtlich gleich, was islamrechtlich als grober Verstoß der Anwendung von Rechtsdogmen galt, sondern schuf eine Sonderstellung, deren Rahmen sich mit der zunehmenden Beeinflussung durch europäischer Mächte ausweitete. Diese Entwicklung führte bei den nichtmuslimischen Gemeinschaften wiederum zu zwei Hauptenwicklungstendenzen. Erstens als Wunsch aus dem osmanischen Staatenverband auszutreten, was zu permanenten Unabhängigkeitskriegen auf dem Balkan führte und zweitens im sozialen Aufstieg der städtischen nichtmuslimischen Eliten in Wirtschaft und Verwaltung. Die Muslimische Bevölkerung erlebte diese Entwicklung durch Vertreibung oder durch den wirtschaftlichen Aufstieg reicher Nichtmuslime in den Städten, insbesondere in der Zusammenarbeit mit europäischen Kaufläuten und Staaten. Die dabei immer weitere Ausdehnung der Konsulargerichtsbarkeit durch ausländische Mächte auf dem osmanischen Territorium (11), festgelegt in den Kapitulationen, die in einer ganz anderen Zeit einmal von der osmanischen Verwaltung abgeschlossen wurden, auf nichtmuslimische Gemeinschaften, zerstörte ein Zusammenleben der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Die Reaktion auf diesen Prozess war die Bevorzugung türkisch stämmiger Verwaltungsanwärter in Armee und Verwaltung. Der dadurch Aufgezwungene staatspolitische Begriff der nationalen Identität erfasste nun die Bürokratie. Die Bezeichnung „Türke" die noch Anfang des 19 Jh. als Synonym für Rohheit und Kulturlosigkeit (12) in der osmanischen Führungsschicht galt, wandelte sich zur nationalen Identitätsstiftung als Reaktion auf die Entstehung von Nationen auf dem ehemaligen Gebiet des Reiches. Diese Tendenz wurde nur dahingehend unterbrochen, dass sich Sultan Abdulhamid II (1876-1909) durch den Grundsatz „Teile und herrsche" als islamische Integrationsfigur in seiner Eigenschaft als Oberhaupt aller Muslime, versuchte dem Druck europäischer Mächte zu entgehen, in dem er Widerstand als religiös sanktionierte und in dem er Muslimische Minderheiten im Osmanischen Reich z.B. Araber, Albaner etc. als Gegenkraft in der Verwaltung (13) etablierte. Spätestens diese Reaktionsweisen schufen einen sozialen und religiösen Gegensatz innerhalb den unterschiedlichen Gemeinschaften im Osmanischen Reich der nicht mehr überbrückbar wurde. Mit der Jungtürkischen Revolution siegte der nationaltürkische Ansatz, der im Prinzip bis in die 30 Jahre der Türkischen Republik vorherrschte.
4. Zerfall des Millet Systems
Untersuchungen der osmanischen geschichts- und staatsbürgerlicher Schulbücher aus der Zeit der späten osmanischen, der jüngtürkischen Herrschaft und der Türkischen Republik zeigen die deutliche kontinuierliche Entwicklung eine Ablehnung von Minderheiten auf osmanischen bzw. türkischen Boden (14). Die in der heutigen Verfassung der Türkischen Republik enthaltenen Angaben zur Nation beinhaltet nicht die Gleichheit unterschiedlicher Gemeinschaften in der Türkei, sondern den staatlichen Willen aufgrund von unterschiedlichen Merkmalen eben keine Ungleichheit herzustellen. Es sind die zum Teil katastrophalen Erfahrungen die im 19 Jh. durch die inhaltlichen und zeitgebunden Interpretationen des Begriffes „millet" und damit den Zusammenbuch des Osmanischen Reiches verbundenen Grundlage für den Umgang der Türkischen Republik mit dem Begriff Minderheiten prägt. Denn gerade die Ablehnung des eigentlichen Begriffes „millet" ist die Basis des modernen türkischen Staates . Jede Kritik oder Diskussion führt somit unweigerlich zur Frage der Identifikation und die damit verbundene staatsnationale konstituierende Grundlage der modernen türkischen Republik (15).
Uwe Becker(c) Artikelbeitrag in: Istanbul Post 09.03.2002
1 Salem Kamel Isam: Islam und Völkerrecht. Das Völkerrecht der islamischen Weltanschauung. Berlin 1984 S.149 ff. (zurück)
2 Paret Rudi: Der Koran. Stuttgart 1983 S. 134/135
3 Literatur zum Thema Nichtmuslime siehe, Kreiser, Klaus: Der Osmanische Staat 1300-1922. München 2001 S. S.155/157
4 Albrecht, W: Grundriß des Osmanischen Staatsrechtes. Berlin 1905 S. 83 ff.
5 Scheel Helmuth: Die staatrechtliche Stellung der ökumenischen Kirchenfürsten in der alten Türkei. Berlin 1943 sowie Matuz Josef: Das Kanzleiwesen Sultan Süleymans des Prächtigen. Wiesbaden 1974
6 Hütteroth Wolf-Dieter: Türkei. Darmstadt 1982 S. 273 ff
7 Faroqi Suraiya: Kultur und Alltag im Osmanischen Reich. München 1995 S. 82 ff.
8 Matuz Josef: Das Osmanische Reich. Darmstadt 1985 S. 203 ff.
9 Ortayli Ilber: The Problem of Nationalities in the Ottomen Empire follwowings the secend Siege of Vienna. In: Das Osmanische Reich und Europa 1683 bis 1783: Konflikt, Entspannung und Austausch. Hrsg. Heis/Klingenstein. München 1983 S. 223-236
10 Scheel, Op.cit., S. 10
11 Matuz, Op. cit., S. 124 (Zum Thema Kapitulationen)
12 Hütteroth, Op. cit., S. 274
13 Faroqi Suraiya: Geschichte des Osmanischen Reiches. München 2000 S. 104 ff.
14 Cikar Mustafa: Von der Osmanischen Dynastie zur Türkischen Nation. Politische Gemeinschaften in osmanisch-türkischen Schulbüchern der Jahre 1876-1938. Darmstadt 2001
15 Rumpf Christian: Minderheiten in der Türkei und die Frage nach ihrem rechtlichen Schutz, in: Zeitschrift für Türkeistudien Heft 2/93 Hrsg. ZfT Leverkusen 1994 S. 173 - 209