Osmanisches Reich
Osmanisches Reich

Islamisches Recht (scharia) versus weltliches Gesetz (kanun)

Fetwa des Scheich ül-islam Ebussut Efendi 16. Jh.

Die im 13 Jh. aufkommende Methode die Gewohnheit und den Brauch im Analogieschluss als Rechtsquelle anzuerkennen öffnete auch den osmanischen Sultanen die Möglichkeit, dort Recht zu schaffen, wo die (scharia) keine Regelung kannte, nämlich auf den Rechtsfeldern des Verwaltungsrecht mit den Bereichen Territorial- Steuer- und Strafrecht sowie Völkerrecht. Spätestens Mehmet II (1451-1481), und später Süleyman I (1521-1566), erkannten die Möglichkeit eigene Regelungen zur Herrschaftssicherung einzuführen. Die Schaffung so genannter Gesetzeswerke (kanuname) stellt eine Durchbrechung des schariat-Rechtes dar und musste bzw. sollte durch den Scheich ül-islam legalisiert werden, d.h. den Anstrich der Rechtfertigung erhalten, um es im Reich unter den Richtern (mufti) durchzusetzen. Dabei bediente sich die Scheich ül-islam der manche mal überdehnten Auslegungen der islamischen Quellentexte durch ein  fetwa, da die Präzisierung in Paragraphen in Form eines Gesetzbuches in der Tradition der islamischen Rechtsprechung nicht vorkommt bzw. zu unbestimmt ist.

 

Fetwa (arab. Fatwa)



Das Erteilen von Rechtsgutachten durch besonders dazu ausgebildete und befähigte Gelehrte (mufti) ist ein überaus wichtiger Bestandteil der islamischen Rechtsprechung. Diese, im Osmanischen Reich rechtsverbindlichen Auskünfte durch den Scheich ül-islam, bezogen sich nicht auf den Sachverhalt als solchen oder auf die Beweggründe eines Handelnden im Augenblick einer Tat, sondern auf die Bewertung des Falles nach den Kategorien (Rechtsquellen), die die Scharia dem Gelehrten an die Hand gibt.



Fetwa zur Möglichkeit von Neuerrungen (bida)

 

rst durch die Interpretation in neuen Fetwas durch den Scheich ül-islam konnten bestehende Begründungen an neuen Verhältnissen angepasst werden. Das erlaubte die Einführung und Übernahme westlicher Ideen wie Verjährungsfristen in Rechtsfällen, Buchdruck, Versicherungswesen, Mikrophon, Fotografie und verwandte technische oder vertragliche Regelungen. Es konnte aber auch Veränderungen behinderten was nachfolgendes Zitat bestätigt:

 

The Triumph of Fanaticim

 

“Now its seems that Murad III built his observatory for astrological rather than stronomical purposes. The sultan`s favourites approved of this, but their rivals, a group of ulema, including the seyhülislam,regarded an interest in astronomy ans atrolology as irreligiuous and illomened, like magic and fortune-telling. The seyhülislam used the outbreak of plague as a pretext for petitioning the sultan to the effect that these bold efforts to penetrate God`ssecrets had caused the plague. In 1550 a group of Janissaries razed the observatory to the ground.”


“The ulema and medrese circles came to take a firm stand against novelties both in the practical and in the rational sciences. For example, when in 1716 Ali Pascha books were confiscated, the seyhülislam issued a fetva forbidding books from the collection, on philosophy, astronomy or history, to be bequeathed to libraries.” (Inalcik, Halil: The Ottoman Empire. The classical age 1300-1600, London 1973 S. 179 ff.)



Der Scheich ül-islam reitet vor Sultan Abdülmecit (1839-2861)

Wer kann ein Fetwa des Scheich ül-islam verlangen?



Im Prinzip konnte jeder Untertan sich mit einem Problem der Rechtsauslegung an den Scheich ül-islam wenden. Staats- und völkerrechtliche Fragen waren hingegen der Regierung bzw. dem Sultan vorbehalten. Dies Betraf Kriegserklärungen, Friedensverträge, Völkerrechtliche Verträge, Bekämpfung von Rebellen und Apostaten sowie die Absetzung hoher Beamter oder des Sultans und deren Hinrichtung. Somit legitimierte der Scheich ül-islam kollektive bzw. staatsrechtliche Angelegenheiten. Dabei kam es durch aus vor, das nicht allein der Scheich ül-islam allein verantwortlich eine Fetwa erstellte, sondern durch die Beratung mit anderen Gelehrten der Ulema versuchte er, einen größere Legitimation der Entscheidung zu erreichen.



Das Ende des traditionellen Rechtes und der Verlust der Macht der Ilmiye.


Durch die Jahrhunderte war aus der einstmals gelehrten Schichte der höheren Ulema ein geschlossenes System von Familien und damit  eine Patron -Klient-Beziehung entstanden, die jeder Reform trotzte. Erst die Niederschlagung der Janitscharen 1826, die gemeinsam sich mit Teilen der konservativen Ulema grundlegender Veränderungen widersetzten, führte zu einer entscheidenden Minderung deren politischer Macht.

 

“Related to the opposition to innovation, and probably more important than this blind stubbornness as a bar to progress, was the ignorance of the majority of the ulema. In the eighteenth century apparently there had been a perceptibale decline in their learning and integrity.”

(Gibb, H./Bowen H.:Islamic Society and the West. Part II, London 1997 104 ff.)



Tanzimat

Ausrufung des "Heiligen Krieges 1914"

Unter Tanzimat (tanzimat-i hayriye) oder die Neue Ordnung, versteht man eine politische Reformperiode, die ein Bündel von systematischen Reformen von Deklarationen, Dekreten und Gesetzen in den Jahren 1839 bis 1878 hervorbrachte. Die Periode des Tanzimat, hervorgebracht von durch Europa inspirierte Bürokraten und Reformer, war die Antwort auf die unhaltbaren staatlichen Auflösungserscheinungen. Der Reformansatz war aus Sicht der Reformer der einzige Ausweg aus der ausländischen Abhängigkeit und militärischen Bedrohung und der inneren Auflösung und des geistigen Niederganges.

 

Mit den kaiserlichen Sendschreiben (hatt-i serif von Gülhane vom 03.11.1839) und (hatt-i hümayun vom 10.02.1856) erfolgte die Sicherung des Lebens und des Besitzes jeder Person durch Gesetz. Zweites Ziel war ein gerechtes Besteuerungssystem und drittens allen Untertanen ohne Ansehen und Religion gleichen Schutz zu gewähren. Dieser aus Europa beeinflusste Paradigmenwechsel, stellte die Tradition und den islamischen Charakter des Reiches in Frage. War bis zu diesem Zeitpunkt der Islam zentraler Bezugspunkt für die tragende Gesellschaftsschicht des Reiches, wurde er nun Stück für Stück durch notwendige weltliche Reformen ersetzt.



Die Entmachtung des Scheich ül-islam und der Ilmiye

 

Die ökonomische Versorgung der Ilmiye war in der Hauptsache durch die Vielzahl von religiösen Stiftungen (vakif) sichergestellt. Dabei wurde das Einkommen zur persönlichen Bereicherung nicht zum Erhalt der Bildung oder nur ungenügend in die Gebäude investiert. Schon 1826 wurde das Ministerium für Religiöse Stiftungen (Evkaf-i Hümayun Nezareti) durch die Regierung übernommen. 1846 wurde das Schulwesen an weltliche staatliche Schulen übertragen. Das Amt des Scheich ül-islam wurde im Zuge der ersten Verfassung (Kanun-i essassi) 1878 in ein Ministerium umgewandelt. Die Gleichrangigkeit mit dem Großwesir war damit beendet. Der Scheich ül-islam war ein Minister unter vielen. Innerhalb von nicht ganz 50 Jahren war das Korps der Gelehrten (ilmiye) mit seinem Oberhaupt dem Scheich ül-islam entmachtet und fristete bis zu seiner Auflösung 1922 ein unbedeutendes Dasein.



Das osmanische Zivilgesetzbuch (mecelle)

Großwesir Mehmed Emin Ali Pascha, einer der Hauptbefürworter einer Rezeption des Code civil.

Einer der letzten bedeuteten juristischen Arbeiten war die Erschaffung eines bürgerlichen Gesetzbuches oder “Buch der juristischen Bestimmungen” (mecelle-i abkam-i adliyye). Diese Buch versuchte, unter dem Vorsitz des Scheich ül-islam und Ahmed Cedet Pasa (1822-1895), die im Rechtssystem klaffende Lücke zwischen (kanuni) und (schria) zu schließen. 1855 setzte Sultan Abdülmecid ein Gremium von Gelehrten ein, um dieses neue Vorhaben zu verwirklichen. Bis 1876 wurden 16 Gesetzbücher geschaffen. Tatsächlich hatte man es geschafft, zwischen den aus Europa importierten Gesetzen und den sultanischen Erlassen auf dem Gebiete des Zivilrecht und den traditionellen islamischen (hanifitischer Lehrmeinung) Rechtsquellen eine Symbiose in der Rechtssprechung zu schaffen. Dabei war die (mecelle) so erfolgreich, dass sie in einigen arabischen Ländern bis in die 50 Jahre noch in Kraft war und bis heute in den Nachfolgegesetzen ihre Wirkung entfaltet.



“Der ganze Stoff dieser Bücher ist in 1.851 durchgehend nummerierte Paragraphen eingeteilt und ähnelt der Form nach einem europäischen Gesetzestext. Auffällig ist jedoch, dass jedes der sechzehn Bücher, die vom Verkauf über das Gesellschafts- recht bis hin zum Verfahrensrecht bei Straffällen das gesamte Wirtschaftsleben zu erfassen trachten, mit mehreren Paragraphen beginnt, in denen die einschlägigen schariatischen Begriffe definiert werden.” .... “Die Rechtspflege wird vom Studium der unüber- sichtlichen, über Jahrhunderte durch Kommentierung und ranglosen überwuchernden Kompendien entlastet; für den Außenstehenden wird der Inhalt der Bestimmungen in ihrem Sachzusammenhang sichtbar.” ... “In der Türkei blieb die (mecelle) bis 1926 (ZVG) in Kraft.”

(Nagel, Tilman: Das islamische Recht, Westhofen 2001 S.302 ff.


“The Mecelle was to be applied both in the seriat and in the nizamiye courts. The former, under supervision of the seyhülislam, judged civil cases among Muslims only, according to the religious law.”

(Davision, Roderic: Reform in the Ottoman Empire 1856-1876, New York 1973 S. 255.)



Die Nachwirkung des Scheich ül-islamabat in der heutigen Türkei

Präsident Ali Bardaköglus, Ankara 2007

In der heutigen Türkei ist das Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet Isleri Baskanligi) (DIB) die Nachfolgeorganisation des Scheich ül-islamabat. Seit 1961 hat es als Institution Verfassungsrang. Seine Aufgaben lauten:

 

“Das Päsidium für Religionsangelegenheiten erfüllt als Bestandteil der allgemeinen Verwaltung im Sinne des laizistischen Prinzips außerhalb aller politischen Ansichten und Auffassungen sowie mit Ziel auf die nationale Solidarität und Integration die in einem besonderen Gesetz vorgesehenen Aufgaben.” (Art. 136 Verf. 1982)

(Rumpf, Christian: Das Präsidum für Religionsangelegenheiten, in: ZfT 1/89 S. 21-33)



Heute erfüllt das Ministerium vielfältige organisatorische Aufgaben. Dies sind Grundsätze in islamischen Religionsangelegenheiten und den Auseinandersetzung in  Predigten, Ansprache und religiöse Literatur etc. Gleichfalls Koordinator religiöser Amtsträger in der Türkei aber auch im Ausland (wie z.B. in Deutschland) und in Zusammenhang mit den Mekka-Pilgerfahrten. Damit steht das Amt  in einem politischen Spannungsfeld zwischen Islam, Laizismus und Nationalismus in dem deutlich die nationale Sicht der Regierung favorisiert wird.

 

Seit 1926 besteht in der Türkei der Grundsatz der Stieftungsfreiheit. Die Stiftungen wurden der Generaldirektion für das Stieftungswesen (Vakiflar Genel Müdürlügü VGM) unterstellt. Die (VGM) regelt die Kriterien der Schaffung und Unterhaltung von Stiftungen ohne religiösen Beiklang, weil sie nicht der staatlichen Religionsbehörde (DIB) unterstellt ist. Gerade dieser Umstand  führte in den 80er Jahren zu einer bunten Mischung verschiedener sozialer, religiöser und politischer Organisationen als Gründer einer Stiftung. Ebenfalls wurde vom (DIB) 1975 eine Stiftung, die so genannte Türkiye Diyanet Vakfi (ZfT) gegründet. Eine der größten islamischen Stiftungsorganisationen ist die so genannte Türkiye Gönüllü Tesekkülleri Vakfi (TGTV). Heute existieren in der Türkei zirka 5000 öffentliche Stiftungen und mehr als 60.000 religiöse Einrichtungen, die durch Vereine getragen werden.



Literaturauswahl

Debus, Esther: Die islamisch-rechtlichen Auskünfte der Milli Gazete im Rahmen des “Fetwa-Wesen” der Türkischen Republik. Islamkundliche Untersuchungen Bd. 95, Berlin 1984

 

Horster, Paul: Zur Anwendung des Islamischen Rechts im 16. Jh. Die “Juristischen Darlegungen” (Ma`ruzat) des Schejch ül-Islam Ebu Su`ud (1574). Bonner Orientalische Studien Heft 10, Stuttgart 1935

 

Kaydu, Ekrem: Die Institution des Scheyh-ül-Islamat im Osmanischen Staat. (Diss.) Erlangen 1972

 

Krüger, Hilmar: Fetwa und Siyar. Zur internationalrechtlichen Gutachtenpraxis der osmanischen Seyh ül-Islam vom 17. bis 19. Jh. unter besonderer Berücksichtigung des “Behcet ül-Fetava”. Wiesbaden 1978

 

Selle, Friedrich: Prozessrecht. Des 16. Jh. im Osmanischen Reich. (Diss.) Wiesbaden 1962

 

Süreyya Mehmed: Sicill-i osmani. 6 Bd., Istanbul 1996



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